Filmarchiv | FONTANES WANDERUNGEN: ODERLAND - RHINLAND - SPREELAND

FONTANES WANDERUNGEN: ODERLAND - RHINLAND - SPREELAND


Regie: Bernhard Sallmann

Theodor Fontane (1819-1898) bereiste als Journalist über Jahrzehnte die Berliner Umgebung. Seine Bücher “Wanderungen durch die Mark Brandenburg” enthalten sehr reiche und entlegene kulturgeschichtliche, ethnographische und biographische Quellen. Bernhard Sallmann entnimmt daraus Passagen, die er mit der heutigen Gestalt der Mark Brandenburg konfrontiert. So entstehen betörende Stillleben, die sich zu einer poetischen und filmischen Landvermessung verdichten – mit Mut zur Entschleunigung, dem Vergnügen an Konzentration und Kontemplation. Aus der epischen Linienführung der Elemente “Text” und “Ort” ergibt sich so ein vielfältiges und vielsagendes Gespräch des 19. Jahrhunderts mit unserer Gegenwart: nicht frei von Momenten des Staunens, des Affekts und der Affirmation. Es ist, wie es war, aber doch ganz anders – wo heute Zugvögel nisten, wurde früher unter sehr harten Bedingungen Torf gestochen, wo heute die Bundesregierung hoch umzäunt ihre Gäste empfängt, lebte früher eine vom König ins Abseits geschobene Figur.

TANGENTIALE Themen Texte Kino
Punkt 8 Wort, Bild und Imagination
Landschaft als Werk von Menschenhand. Bernhard Sallmann lässt in „Rhinland. Fontane“ den Meister selbst zu Wort kommen und zeigt Bilder, die Raum lassen für Gedanken, die auf Wanderschaft gehen.
Ein Essay von Uwe Rada
anlässlich des Films RHINLAND. FONTANE von Bernhard Sallmann – Krokodil Film Verleih

Wenn ich im Regionalexpress nach Prenzlau aus dem Fenster schaue, mit dem Fahrrad an der Oder unterwegs bin oder mit dem Auto im Ruppiner Land, bin ich auch noch Jahrzehnte nach meiner ersten Begegnung mit der Mark überwältigt. Eine Landschaft im Überfluss breitet sich vor mir aus, ganz das Gegenteil von dem, was wir in den dicht geknüpften Siedlungsteppichen zu sehen bekommen, in denen Landschaft oft nicht mehr ist als Abstandsgrün zwischen Städten und Industriegebieten. Nicht die Städte werfen in Brandenburg ihre Netze aus, sondern Wälder, Seen, Kulturlandschaften, so dass der Mensch, vor allem der aus der Stadt, schnell demütig wird. Die Mark als Trostlandschaft für den geplagten Städter. Das ist unser Bild auf die Landschaft, das Gründerzeit und Industrialisierung hervorgebracht haben. Und auch Theodor Fontane war da nicht ganz unschuldig. In seinen „Wanderungen“ erfand er die Mark als touristische Marke, und so sehen wir sie bis heute: blaue Seen, grüne Wälder, ehrwürdige Herrensitze. Landschaft und Geschichte. Geschichtslandschaft.

Gleichzeitig aber weiß ich, dass dieses Bild falsch ist, und manchmal kann man es sogar sehen. Im Oderbruch sind es die planmäßig angelegten Dörfer, die davon zeugen, dass die Landschaft von Menschenhand gemacht ist, keine Idylle, sondern ein den Sümpfen der Oder abgerungenes Stück Land für Kolonisten, die ihr Kommen nicht zu bereuen brauchten, wie Fontane wusste: “Man streute aus und war der Ernte gewiss. Es wuchs ihnen zu. Alles wurde reich über Nacht.” Vor der großen Trockenlegung im 18. Jahrhundert lebten im Oderbruch slawische Fischer. Fontane muss ihr Schicksal sehr berührt haben, deshalb zitierte er mehr als hundert Jahre später aus alten Berichten. Der Wandel der Landschaft war ihm bewusst. Das Landschaftsbild der Mark ist auch das Ergebnis großer ökonomischer Umwälzungen.

Als ob es dazu eines Beweises bedurft hätte, hat Bernhard Sallmann seine Kamera postiert. Hat das Objektiv justiert, mit Blick über den See nach Neuruppin, die Geburtsstadt Fontanes, auf Schloss Rheinsberg, wo Preußens Kronprinz Friedrich die Jahre vor seiner Krönung verbrachte, auf Schloss Meseberg, den Stechlin. Es sind keine Kamerafahrten, die die märkische Landschaft ins Szene setzen, es ist die Landschaft selbst, die sich von der Standkamera beobachten lässt als wäre die ein menschliches Auge. Immer wieder geht der Wind durch die Gräser, gelegentlich fährt ein Auto durchs Bild, die Landschaft, die die Kamera beobachtet, ist also sehr gegenwärtig. Es sind Gedanken wie diese, die man sich beim Schauen des Filmes „Rhinland. Fontane“ von Bernhard Sallmann macht. Auch die Gedanken können auf Wanderschaft gehen.

Die Kamera, geführt von Sallmann selbst, ist das eine Element des Filmes, das andere ist eine Stimme. Sie stammt von Judica Albrecht. Albrecht hat Fontane die Stimme geliehen, und man weiß nicht, wem man sich eher hingeben mag. Dem Ebenmaß der rhythmischen Prosa des Dichters, oder dem hohen Ton, den Albrecht daraus hervorzaubert.

„Rhinland. Fontane“ ist kein Film fürs schnelle Vergnügen. Das hat er mit der märkischen Landschaft gemein. Man guckt ihn nicht einfach so weg. Man muss sich einlassen, auf die Bildästhetik und den gesprochenen Text. Dann aber gibt es eine Menge zu entdecken, und am Ende ist der eigene Blick auf die Landschaft wieder um einige Bilder reicher geworden. Zum Beispiel in Gentzrode. Nahe Neuruppin hatte 1876/1877 Alexander Gentz ein Herrenhaus im maurischen Stil bauen lassen. Es sollte die Krönung des landwirtschaftlichen Betriebes sein, den Gentz mit seinem Vater aufgebaut hatte. Die Familie Gentz war reich geworden durch den Abstich von und den Handel mit Torf, den er über den so genannten Fehrbelliner Kanal nach Berlin verschiffen ließ. Dieser märkischen Erfolgsgeschichte lassen sowohl Fontane in seinen Wanderungen als auch Bernhard Sallmann in seinem Film breiten Raum: „Gentzrode wuchs; Wiesen waren neuerdings erworben worden und die Bäume gediehen noch über Erwarten hinaus, so daß in den Gründerjahren viele Tausende davon verkauft werden konnten. Ausfälle, die trotzdem eintraten, konnten durch die reichen Torfstich-Erträge leicht gedeckt werden. Alexander Gentz verfolgte rastlos den Plan einer allgemeinen Arrondierung seines Besitzes, sowohl seiner Äcker in Gentzrode, wie seiner Torf-Gräbereien im Luch. Die Leute nannten ihn den ‘alten Blücher’, in Anerkennung der Energie, mit der er alles durchführte, was er sich vorgesetzt hatte.“

Fontane kannte Gentz, weil seine Eltern in der Nachbarschaft des Anwesens in Neuruppin lebten. Umso mehr muss ihn der plötzliche Niedergang des nachbarlichen Unternehmens getroffen haben, der auch ein Hinweis darauf ist, wie sehr die Gestalt der Landschaft nicht nur im Oderbruch, sondern auch in der Grafschaft Ruppin den wirtschaftlichen Umwälzungen unterworfen war uns bis heute ist. Den Abstieg in Gentzrode beschrieb Fontane so: „Da, mit einem Male, war es, trotz dieser Siege, mit den ‘wachsenden Erträgen aus dem Luch’ aus und dadurch mit Gentzrode, ja mit dem Wohlstand der Familie vorbei. Wie kam das? Der Torf war über Nacht außer Mode gekommen. Alles brannte Steinkohlen oder Briketts und selbst die Ziegeleien, die bis dahin, ein sehr wichtiger Punkt, die Konsumenten der sonst halb wertlosen Torfabgänge gewesen waren, bauten ihre Brennöfen um, um mit Hilfe dieser Neubauten die Vorteil versprechende Mode mitmachen und Steinkohlen statt Torf verwenden zu können.“

Torf also. Der Torf brachte den Wohlstand, und er nahm ihn wieder. Hart war die Arbeit der Torfstecher, auch davon zeugen Film und Fontane. Mancherorts, wie im Wustrauer Luch, wurden eigens Torfhäuser gebaut, in denen die Saisonarbeiter lebten, um mit ihren Schneideeisen, Torfmessern und Drahtschneidern die Landschaft umzugraben. Geschundene Landschaften in Brandenburg gab es nicht erst seit dem Umpflügen der Niederlausitz durch den Braunkohletagebau.

Dennoch folgt diese Landschaft einer Ordnung, die älter ist als das Werk des Menschen. Denn inmitten aller Umbrüche war es ein Fluss, der die Landschaft zusammenhielt, der Rhin, dem Sallmann auch den Titel seines Filmes schenkte, obwohl Fontane selbst diesem Teil seiner Wanderungen die Überschrift „Grafschaft Ruppin“ gegeben hatte.

„Der Rhin“, zitiert Judica Albrecht Fontane, „nimmt auf der ersten Hälfte seines Weges seine Richtung von Nord nach Süd, bis er, nach Passierung des großen Ruppiner Sees, beinah plötzlich seinen Lauf ändert und, rechtwinklig weiterfließend, ziemlich genau die Südgrenze der Grafschaft zieht.“ Fontanes Neigung, Flüsse als Ordnungssystem der Landschaft zu akzeptieren, ist offensichtlich. Drei der ursprünglich vier Bände der Wanderungen waren nach Flusslandschaften benannt, das Oderland, das Ost-Havelland und das Spreeland. Einzig die Grafschaft Ruppin bricht aus dieser Ordnung aus, um von Bernhard Sallmann wieder dorthin zurück geführt zu werden. „Rhinland“, diesen Namen trägt der Film nicht umsonst, wie das Zitat Fontanes zeigt.

Wasser als Element der Landschaftsordnung. In Brandenburg ist das etwas Selbstverständliches. Von den 14 Landkreisen des Bundeslandes tragen acht die Namen eines oder mehrerer Flüsse. Wasser gehört also nicht nur zum natürlichen Erbe Brandenburgs, das mit seinen 3.000 Seen und 33.000 Flusskilometern zu den wasserreichsten Regionen Deutschlands zählt. Wasser ist auch ein Teil seiner regionalen und kulturgeschichtlichen Identität geworden.

Gentzrode ist aber auch Beispiel dafür, wie flüchtig diese Identität sein kann. Ohne Niederungen und Luche kein Torf, ohne Torf kein Fehrbelliner Kanal nach Berlin, ohne kein Reichtum. In gewisser Hinsicht war der Aufstieg und Fall der Torfindustrie nur ein Vorbote des Aufstiegs der Kohleindustrie. Was aber kommt danach?

Beim Torf wissen wir es. Das Herrenhaus von Alexander Gentz ist heute verlassen, eine zerfallende Ruine, der Wind und Wetter zusetzen, weil der Besitzer, ein Investor aus der Türkei, zwar eine Idee hat, sich mit der aber Zeit lässt. Eine Ferienanlage soll dort entstehen. Mit Golfplätzen, Hotel, Villen und über 700  Ferienhäusern.
Gentzrode ist also bedroht und mit ihm ein Stück märkische Geschichte. Doch im Vergleich mit dem, was an Umwälzungen auf das Land zwischen Oder und Elbe zukommen könnte, waren die Trockenlegungen der vergangenen Jahrhunderte vielleicht nur Vorboten. Ich werde künftig genauer hinschauen müssen, wenn ich zu Fuß, mit dem Fahrrad oder dem Auto im Märkischen unterwegs bin. Bernhard Sallmanns Film „Rhinland. Fontane“ hat mich gelehrt, wie wichtig beides ist: hinhören und hinschauen, auch wenn sonst wenig passiert.

Bernhard Sallmann
Einige Bemerkungen zu meinen Filmen „Oderland Fontane“, „Rhinland Fontane“, Spreeland Fontane“ und Havelland Fontane“

Theodor Fontane (1819-1898) schrieb vier Bücher „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“. Einzelne Feuilletons zu Orten, Personen und Geschichtsetappen veröffentlichte er vorab in Zeitungen, Almanachen oder Jahrbüchern. Er hat sie auch stets umgearbeitet, Neuigkeiten eingepflegt und anderes ausgeschieden. Ein mobiler Textkorpus, wuchernd, riesig! Ein Band umfasst jeweils etwa 500 Seiten. Davon scheinen in meinen Filmen jeweils etwa 20-25 Seiten auf. 1892 sind die Arbeiten in einer Wohlfeilen Ausgabe (Volksausgabe) letztmalig zu Fontanes Lebzeiten in seinem Editionsplan erschienen. Im Kern habe ich in meinem Filmprojekt mit dieser Ausgabe gearbeitet. Hinzugezogen habe ich die Anmerkungsapparate der DDR-Edition, der BRD-Edition und der gesamtdeutschen Edition. Auch Fontane ist ein Produkt des Kalten Kriegs, die DDR hatte die bessere Quellenlage.

Das fünfte Buch „Fünf Schlösser“ ist editionsgeschichtlich wie ein Kuckucksei ins Nest gefügt worden. Es hat einen anderen Charakter als die anderen vier Bücher. Gleichwohl ich zu Anfang meines Filmprojekts noch die Möglichkeit erörterte, die einzelnen Schlösser bei Interesse den einzelnen Filmen beizugeben, so habe ich im Laufe der Arbeit an den Filmen ein immer stärker werdenden Bewusstsein entwickelt, es füge sich schlecht.

Fontane eröffnet mit den Landschaften nördlich von Berlin sein Quartett: „Die Grafschaft Ruppin“(Erstausgabe: 1861). Es folgen „Das Oderland“(1863) östlich von Berlin und „Havelland“(1872) westlich von Berlin. Den Abschluss bildet „Spreeland“(1882) südlich von Berlin. Es fällt auf, dass Fontane die beiden ersten Bände mit einem bestimmten Artikel versieht, davon jedoch im dritten und vierten Buch Abstand nimmt. Er scheint sich einer konkreten Geographie nicht länger unterordnen zu wollen. Oder seiner realen Geographie nicht länger vertrauen zu wollen. Geographie bei Fontane ist sehr real in vielen Schilderungen, sie ordnet sich aber auch spekulativ seinem Editionsplan unter.

In meiner Herzensgeographie, die Ländergrenzen zu minimieren versucht, war Fontanes „Das Oderland“ meine erste Wahl. Was zu Fontanes Zeiten in Teilen die Neumark, jene Regionen östlich der Oder war, ist heute ein anderes Land – Polen – mit einer anderen Sprache. Andere Klänge, Gerüche, Architekturen.
Hier zeigt sich schon im Titel „Oderland Fontane“(2016) mein Manöver. Ich war auch in einem Zeifel: Sollte der Film „Oder/Odraland Fontane“ heißen? Ich wollte den Autor nicht zuerst nennen, ich wollte die Landschaft nennen, dann den Autor. Denn der ragt ja ohnedies so mächtig in den Prozess der Signifizierung der märkischen Landschaft hinein. Viel mehr als der Wanderer August Trinius, ein Zeitgenosse Fontanes, der drei Bände „Märkische Streifereien“ vorlegte. Fontanes große Bekanntheit, Trinius´ große Unbekanntheit. Trinius als tatsächlich wandernder Schatten des kutschereisenden Fontane. Fontane im Schatten der Quellen – denn er zitiert viel aus Memoirenliteraturen und Kirchenbüchern, er hört zu, auch der plattdeutschen Sprache lauscht er nach. Fontanes Bescheidenheit ist Teil seiner Größe. Er verleugnet die Quellen auch nie. Aber auch spreizt sich seine Sprache auf zu einem pfauengefiederartigen Rad, das glänzt und lockt. Ich als fahrradreisender Filmemacher. Bepackt wie ein Esel. Tourist? Als Arrieregarde und Avantgarde zugleich. Nach den Texten und vor den Wahrnehmungen Fontanes im 19. Jahrhundert. Kreise ziehend durch Texte und Landschaften. Schnitte, fahrende Schnitte in die Landschaft eintragend. Die Frage trieb mich um: Spricht das 19. Jahrhundert mit unserer Gegenwart und wenn: Wie kann das filmischen Ausdruck finden.

Das Bild der Waage ist naheliegend, Fontane war Apotheker. Gleichwohl er den Beruf hasste und früh aufgab zugunsten einer schriftstellerischen und journalistischen Karriere, ist der Modus des Abwägens, des in der Waage Haltens, ein zentrales Element seiner Poetologie. Ich wollte nicht Fontanes Wahrnehmung der Landschaften verfilmen. Ich wollte – außer seinen Texten – kein weiteres Archivmaterial verwenden. Vielmehr wollte ich die Landschaften wie ich sie heute wahrnehme in ein Verhältnis zu Fontanes Texten setzen. Keine Historisierung anstreben. Ein einziges Mal in den vier Filmen habe ich ein Textstück ausgewählt, das nicht aus den „Wanderungen“ ist, sondern dem autobiographischen Roman „Meine Kinderjahre“ entstammt. Im Kapitel „Vierzig Jahre später“ – ein Fremdkörper im Text – schildert Fontane die letzte Begegnung mit seinem Vater, der im Alter, geschieden, von Spiel- und Trunksucht gezeichnet, sich in eine Schifferkolonie in das Oderbruch zurückzog.

Fontanes „Das Oderland“ erstreckt sich von Frankfurt bis Schwedt (Süd-Nord) und von der Oderbruchkante bis über die Oder hinaus (West-Ost). Daran hielt ich mich fahrend, reisend, rasend (so schnell es eben ging), die asphaltierte Dammkrone dahinhuschend, durch Bruchwege hoppelnd, unter Bäumen lagernd. Immer im Warten auf Licht und Wind. Das Oderbruch war großen Zerstörungen zum Ende des 2. Weltkriegs ausgesetzt, es fehlt ihm so vieles, was Fontane sehen konnte. Wo sind die Brücken, die Furten, die Fähren.

Der erste Film war der Testfall, ob es überhaupt möglich wäre: Die sehr langen statischen Einstellungen mit den sehr langen feuilletonistischen Textstücken – in der Voice Over Judica Albrechts traumhaft sicher und messerscharf rezitiert – zu kombinieren. „Mastershots“. Das sehr gewagte Konzept, von jedem Ort fast immer nur ein einziges Ton-Bild zu erstellen. Keine Auflösungen der Motive. „Oderland Fontane“ habe ich mit einer HDV-Kamera gedreht, die ich einst dem lieben und geschätzten Kollegen Johannes Holzhausen für 300 Euro abgekauft habe. Eine Kamera, die nicht imstande ist, ein „vollwertiges“ (aber was heißt das?) HD-Bild zu erstellen. Das Bild ist „mangelhaft“, brüchig. Wie ein verwischtes Aquarell. Schlechte Farbe auf schlechtes Papier aufgetragen. Ein Videoimpressionismus. Flächig, klumpig. Das Material war schwer zu behandeln in der sog. Postproduction, im Colorgrading. Wie ein altersschwacher Körper mit faltiger Haut. In dem scheinbaren Mangel jedoch berührt mich der Film sehr, in seinem Versagen gegenüber den Aufmärschen der Pixelarmeen. In seiner Dunkelheit. Der Chip leistet eben nicht mehr. Es gibt keine Musik in den Filmen. Und doch sind sie vom Geist der Musik beseelt. Mein Oderland-Film wie eine getragene Symphonie eines/r unbekannten KomponistIn. Die Oder ist der mächtigste Fluss in meinem Filmquartett, er fließt letztlich entschieden dem Meer zu. Wo das Süßwasser sich mit dem sauren Wasser mischt.

Fontanes erstes Buch „Die Grafschaft Ruppin“ wurde das Material für meinen zweiten Film „Rhinland Fontane“(2017). Fontane benennt drei seiner Bücher bereits nach Flüssen. Die Flüsse sind seine Navigationssysteme. Es war somit naheliegend, für „Die Grafschaft Ruppin“ ebenfalls einen Flussnamen zu finden, zumal der Fontanetitel sich mit einer heutigen politischen Situation inkompatibel zeigt. Der Rhin ist der tückischte der märkischen Flüsse gewesen, zumal er manchmal sich bachartig, rinnsalartig verjüngt, manchmal von Wiesen absorbiert wird und an anderer Stelle wieder zutage tritt. Der Konkurrenzfluss in der Namensgebung wäre die Havel gewesen, die ja von Norden her kommt und später Fontanes drittem Buch dem Titel gibt. Er ist vom Geist der knappen Musik inspiriert: Webern, Kurtag. Demnach der kürzeste Film. Aphoristisch, herb, spröd. Er benennt den Wert des „Kleinen“, das koexistent neben dem „Großen“ bestehen kann, seiner Marginalität jedoch bewusst ist. Demnach ist dieser Film manchmal im Muster von „weit“ und „nah“ gedreht. In einer Ununterscheidbarkeit, ob das Weite das „Kleine“ oder „Große“ ist. Wiederum ist die Grenzfrage interessant gewesen. Fontane schildert die Schmuggler, die zwischen Brandenburg und Mecklenburg sich bewegen. Er schildert desertierende Soldaten. Heute eine ähnlich verlaufende Grenze, mit einem gewaltigen Index jedoch: Wo Fontane vor vielen Jahren von Preussen auf Mecklenburg blicken konnte, symbolisch Heinrich Schliemann in Fürstenberg grüßend, da ist heute die KZ-Gedenkstätte Ravensbrück. Fontanes Geographie folgend zwang ich mich zu diesem Ort des Grauens. Ich umschlich ihn und erst am letzten Drehtag filmte ich. Ich überschritt auch die Grenze zum Mecklenburgischen, um einer Trasse zu folgen: Ich folgte wie ein männliches Groupie dem Beerdigungstross der sehr jung verstorbenen Königin Luise („Königin der Herzen“ in der preussischen Typologie, Napoleon stolz trotzend selbst in der Niederlage) von Hohenzieritz über Dannenwalde nach Gransee. Wo die Grenze zwischen Mecklenburg-Preussen lag, erinnert heute ein Gedenkstein. Dass Preussenromantik nicht nur inadäquat, sondern sogar unmöglich ist, beweist dieser Ort, der von Verkehr umtost ist. Bundesstrasse 102, der/die Radfahrende würde sofort zu Tode kommen, wäre er/sie nicht durch Radwege abgetrennt vom Toben der Rasenden, auf der einen Seite, die Bahntrassse auf der anderen Seite. „Erbarme dich!“ Das an den Rand gedrängte Preußen. Überhaupt bei Fontane fällt oft auf, dass er Herrschaftsgeschichte als Debilitätsgeschichte erzählt. Verdrängte Homosexuelle, ins Abseits Geschobene, zu Bestrafende, Fetischisten, Verhöhnte.

Erbarmen mit der Landschaft empfand ich am stärksten im „Spreeland Fontane“(2018) Film. Fontanes Ideen-Skizzen zum Buch reichen bis nach Cottbus, der Maler Blechen ist eine wichtige Figur für ihn. Im fertigen Buch reicht Fontanes Radius jedoch gerade bis in den Spreewald und nicht weiter. Mir war jedoch auch wichtig die erneute Begegnung mit den Bergbaufolgelandschaften. Ich hatte da noch eine Rechnung offen, „Träume der Lausitz“(2009). Gleich unterhalb des Spreewaldes. Wo die Natur ihres Schatzes beraubt wurde, ausgekohlt daliegt, begleitet von totem Wasser, saurem Wasser, in dem kein Lebewesen sich aufhalten kann. Die innere Musik, die den Film begleitet hat, war die „Matthäuspassion“ von Bach. „Erbarme dich!“ Und die Bemerkungen von Hermann Scherchen in der Generalprobe zu Beethovens 5. Symphonie 1965 in Lugano. Ich verstehe kaum was er in italienischer Sprache zu den MusikerInnen sagt, aber es ist das Tempo seines Sprechens, seine Entschiedenheit, seine Präzision, den Weg durch die Partitur zu suchen und zu finden.

Ein Film des zwillinghaften Wesens, da es sich um zwei Flüsse handelt, an denen Fontane navigiert. Die Dahme, die sich in Köpenick mit der Spree verbindet. Und, für mich von rasendem Interesse: Die Dahme zu Fontanes Zeiten wurde die Wendische Spree genannt. Die Hinwendung Fontanes zur wendischen Kultur ist enorm und nicht vereinbar mit den ethnologischen Valenzen der märkischen Welt. Fontane hat ein fotographisches Gedächtnis. Er beschreibt so präzis wie ein optischer Aufnahmeapparat.
Ich habe mich in der Auswahl der Textstellen aus den Büchern stark für die Darstellung der Tierwelten interessiert. Sie sind es, die im Prozess der Zivilisierung den Menschen weichen müssen. Weichen durch ausrotten. Wie schön daher, dass in der Darstellung einer königlichen Sauenhatz der König bei einer infantilen Mutprobe vom Keiler fast zu Tode gebracht wurde. „Blutend brachte man ihn nach Köpenick.“

„Havelland Fontane“ ist der vierte und letzte Film meiner Serie. Der bogenförmige Fluss, bei Fontane bei Oranienburg einsetzend, Berlin und Potsdam durchmessend und hinter Brandenburg Stadt wieder nach Norden fließend. Halfpipe. Er ist eine wehmütige Abschiedsmelodie. Eine nicht enden wollende Musik. Demnach der mit Abstand längste Film. Diesmal ist das Antlitz des schweißtriefenden steinern-wächsernen Gesichts Hermann Scherchens von zentraler Bedeutung. Sein letztes Dirigat, „Die Kunst der Fuge“, mit einem Ensemble in einer Kirche am Stadtrand von Paris eingespielt. Von einer Fernsehanstalt begleitet. So todesnah, dass er nicht aufhören will die Variationen auszukosten. Schwebend. Dem Irdischen entrückt. Ich konnte und wollte nicht aufhören mich in der Landschaft zu bewegen, zu suchen, mich zu ergehen. Einzelne Einstellungen habe ich 40 Minuten laufen lassen, um den Bewegungen der Landschaft nachzuspüren.
„Havelland“ an das Ende meines Zyklus zu setzen, bedeutet auch einen unüberhörbaren Paukenschlag zu inszenieren. Ein ländliches Proletariat mit Wanderarbeitern ist entstanden. Die Großstadt Berlin ist am Entstehen, ein neuer Energiestrom bildet sich.

Fontanes „Wanderungen“-Bücher ignorieren brüsk die Stadt, er ergeht sich in den Landschaften fernab, aber in „Havelland“ beginnt es zu verschmelzen. Spätestens in meiner Diagnose von Landschaft und Arbeitswelt.

Fontane arbeitet mit Übertreibungen, um die Landschaften um Berlin zu etablieren. Ich übertreibe, um mein Projekt darzustellen: Es ist eine märkische Anakonda, eine Riesenschlange. Die Grenzen zwischen den Filmen sind gesetzt, doch Neuverknotungen sind denkbar. Aus kleineren Schlangen eine große machen. Sowohl der Text Fontanes ist eine Riesenschlange, als auch die Flüsse. Ein einziges Geschlinge. Oft mehr Sumpf und See als Fluss. Die Filme sind neu zu verketten. Es ist anzuraten, sie beispielsweise in der Reihenfolge des Erscheinens von Fontanes Büchern zu sehen. Oder in der Reihenfolge ihrer Längen: Rhinland – Oderland – Spreeland – Havelland. Oder in alphabetischer Reihenfolge. Sie in Paaren zeigen.

Der Filmemacher versteht sich auch als märkische Anakonda, als Getier im Sumpf auf Bild- und Tonbeute lauernd. Montage als Verdauung und muskulärer Umschlingung der Beute.

Die Filme sind auch eine Auseinandersetzung mit den Gemäldegalerien. „Havelland Fontane“ bezeichnet sich als Fete galante, ein von Watteau entwickeltes Bildgenre des Rokoko. Und ganz profan: Viele Watteaus hängen in Schloss Charlottenburg und Schloss Sans Souci und in der Berliner Gemäldegalerie im Havelland. Der flötenspielende König sammelte ihn. Auf die von den MeisterInnen ersten, zweiten oder dritten Ranges – das kann sich ja auch stets ändern – erarbeiteten Proportionen, Formen und Kadragen ist stets Verlass. 16:9 ist wahrscheinlich nicht das glücklichste Format in der Filmgeschichte. Es ging oft bei meiner Bildsuche um ein anamorphotisches Verfahren, die Kunstgeschichte in die Proportionen der Filmtechnik einzupassen. Die Bewegung ist für mich das Erregende und stellen die Distanznahme zur Bildergalerie statt. Die Filmbilder, so reglos sie zu sein scheinen oftfach, sind von fürchterlichen Spannungen durchzogen. Ein Blatt mehr, das vom Wind bewegt wird, könnte den Rahmen zum Zerbersten bringen.
Eine Unruhe treibt mich radfahrend durch die Landschaften wie ein Späher, lauschend, guckend. Eine fieberhafte Suche nach dem idealen Klangbild eines Ortes. Ich drehe immer mit Originalton oder – um es einmal umzudrehen – Originalbild.

Zur Fete galante: Das an der Grenze zum Frivolen Stehende bei Watteau oder Pesne ist in meinen Filmen nur für´s erste sublimiert. Es tritt überdeutlich zutage in den vielfältigen Kopulationen von Licht und Sand/Schlamm/Baum/Ziegel. Lichtspiele eben. Töne als Hauch, ein zartestes Blasen. Ein Schnauben der Nüstern. Ein Zerreißen der Stille, ein Verklingen. Die Diminuendi Scherchens. Die vielfachen pianos Nonos.

Inhaltsübersicht

ODERLAND FONTANE 72 Min.
RHINLAND FONTANE 67 Min.
SPREELAND FONTANE 79 Min.

Credits
Buch: Bernhard Sallmann
Kamera: Bernhard Sallmann
Regie: Bernhard Sallmann

Produktionsland: D
Produktionsjahr: 2016-2018
Pressestimmen

„Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat haben.“ Theodor Fontane

„Heimatkunde, still und leise: Fontane ging es nicht um ein identifikatorisches Verhältnis zu den eigenen Wurzeln. Eher um Entdeckungen auf den zweiten Blick. Dieser Geist findet sich auch in dem puristischen Dokumentarfilm wieder, mit dem Bernhard Sallmann jetzt das Fontane Jahr einläutet.“ Die Welt

„Die Kunst seiner Fotografie zeigt sich vor allem darin, dass er nicht einfach perfekte, fast schon gemäldehafte Kompositionen findet, sondern dass er immer wieder Motive entdeckt, die auf mehrere Zeiten gleichzeitig verweisen.“ Zitty

„Meditative Ruhe und analytische Schärfe sind die Parameter, die das ästhetische Prinzip ausmachen und dem Publikum einen Raum öffnen, um die komplexen Zusammenhänge zwischen Natur, Kultur und Politik zu verstehen.“ Crossing Europe, Linz: Local Artist Hauptpreis, aus der Jury Begründung

“Sallmanns Filme bieten Gelegenheit, in die Landschaften einzutauchen, sie sind kontemplatives Kino, jedes Motiv ein Gemälde. Der geduldige Zuschauer hört sanften Winden und dem Gezwitscher der Vögel zu. Und Fontanes Geschichten, die sich wie Folien über die Aufnahmen legen. Mitteilungen aus einer scheinbar vollendeten Vergangenheit streifen die Gegenwart. Das Gestern vermählt sich mit dem Heute, und dennoch bleibt kein Zweifel, dass jede Zeit, auch die unsere, flüchtig ist. Ein philosophischer Film, der seine Weisheiten leise vermittelt: Was uns jetzt wichtig vorkommt, wird morgen nur noch auf dem Papier des Chronisten festgehalten sein. Oder auf Bildern.” Berliner Zeitung

“Mit „Oderland Fontane“, „Rhinland Fontane“ und „Spreeland Fontane“ versammelt diese DVD drei essayistische Filme von Bernhard Sallmann, in der vorgelesene Texte Theodor Fontanes mit teils grandiosen Bildern der vorgestellten Landschaften korrespondieren – ein herrlich kontemplativer Einstieg ins Fontane ­Jahr zu dessen 200. Geburtstag” Zitty

“Aus dem gewaltigen, mäandernden Text montiert Sallmann Vignetten, die sich an der Vielschichtigkeit und Vielgestaltigkeit des Materials orientieren: zwischen anekdotischem Reisebericht, literarischer Landschaftsbeschreibung und kenntnisreicher Kulturgeschichte, mit ausschweifendem, zitierendem Rückgriff auf zum Sprechen gebrachte Quellen.
Eine verblüffende Seherfahrung entsteht aus diesen Bildern und ihrer Konfrontation mit Fontanes Texten, eine Suchbewegung wird angestoßen, im Versuch, ein Verhältnis zwischen Bild und Wort herzustellen. Der Film lässt dem Publikum die Zeit dafür, wandert wie Fontane gemächlich durch die Landstriche (oder nimmt wie Sallmann bei den Dreharbeiten das Fahrrad), Zeit, um sich dem suggestiven Sog der Bilder hinzugeben und wieder zu entziehen, den Texte zu lauschen, um nach Übereinstimmungen zu suchen, und den Abstand zu vermessen.
Sallmans Fontane-Filme dehnen diesen Zugang in mancher Hinsicht aus, und verbinden eine kongeniale Adaption des spezifischen literarischen Dokumentarismus Fontanes mit einem eigensinnigen filmischen Dokumentarismus, der die Texte als kulturgeschichtliche Betrachtungen nicht nur bebildert und aktualisiert, sondern in den Spannungsfeldern zwischen Bild und Sprache eine filmische Geschichtsforschung in Szene setzt, die nicht auf die Metaphorisierbarkeit von Bildern zielt, sondern auf informierte Bewegung der Differenzen: ein Weltkino, das seine Kraft nicht zuletzt aus seiner lokalen Präzision zieht.” Perlentaucher

Auszeichnungen

Crossing Europe, Linz: Local Artist Hauptpreis,
aus der Jury Begründung:
„Meditative Ruhe und analytische Schärfe sind die Parameter, die das ästhetische Prinzip ausmachen und dem Publikum einen Raum öffnen, um die komplexen Zusammenhänge zwischen Natur, Kultur und Politik zu verstehen.“

DVD
nicht mehr lieferbar

Best. Nr.: 4068
ISBN: 978-3-8488-4068-7
EAN: 978-3-8488-4068-7
FSK: Infoprogramm

Länge: 218
Bild: PAL, Farbe, 16:9
Ton: Dolby Stereo
Sprache: Deutsch
Untertitel: englische Untertitel
Regionalcode: codefree

Label: absolut MEDIEN
Rubrik: Dokument
Genre: Literaturverfilmung


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