Filmarchiv | Warum Israel (Pourquoi Israël, Sonderausgabe)
Warum Israel (Pourquoi Israël, Sonderausgabe)
Regie: Claude Lanzmann
Das Online Booklet: https://film.absolutmedien.de/warum-israel-booklet/
Das Filmdebüt des engagierten Publizisten und Sartre-Weggefährten Claude Lanzmann (SHOAH) ist fraglos eines der bemerkenswertesten Zeitdokumente über den Staat Israel und sein Selbstverständnis, seine religiösen und politischen Fundamente und vor allem: seine Bürger. Sie sind es, die im Film zu Wort kommen – Angehörige der ersten Siedlergeneration, Neueinwanderer aus der Sowjetunion, Arbeiter, Intellektuelle, junge Israelis. Ohne belehrenden Kommentar, ohne jede propagandistische Geste, dafür mit großer persönlicher Anteilnahme und viel Humor, spürt Lanzmann den Errungenschaften und Widersprüchen einer entstehenden israelischen Nation nach. So ergibt sich ein lebendiges Panorama der einzigartigen Vielfalt dieses Landes, seiner Paradoxien, Spannungen – und seiner schwierigen »Normalität«:
»Dieser Film hat einen roten Faden, nämlich: Was ist das: Normalität? Was ist das: Ein Land, in dem jeder Jude ist? Das ist das Entscheidende vom Standpunkt eines Juden aus der Diaspora – und das waren sie ja letztlich alle. Der ganze Film spielt damit, mit der Normalität und der A-Normalität. Ich zeige in WARUM ISRAEL, dass die Normalität das eigentlich Anormale ist.« Claude Lanzmann
DIE BEFRAGTEN
Gert Granach (1973: Bürger von Jerusalem, 1933: Mitglied der Kommunistischen Jugend Deutschlands KJD in Berlin); Beno Grünbaum (Kibbuz Gan Schmuel); Benjamin Shalit (Oberst, Chefpsychologe der Armee); Ygal Yadin (Professor der Archäologie, ehem. Stabschef der Armee); R. J. Zwi Werblowsky (Professor für Religionsgeschichte); Avraham Schenker (Mitglied der zionistischen Exekutive); Jacques Barkat (Dockarbeiter im Hafen von Ashdod); Zushy Posner (Schuster); Genia Gordjetski und Frau (Russische Siedler in Arad); Abraham Yoffe (Naturschützer, Reserve-General); Yuval Ran Cohen (Generalsekretär des Kibbuz Gan Schmuel – Paratrooper Commander); Paul Jacoby (Rechtsanwalt aus Königsberg); Schmuel Bogler (Polizei-Hauptkommissar); David Moshé (Gefängnisinsasse von Tel-Mond); Mikael Feldman (Leiter d. Abt. Biologie am Weizman-Institut); Noamah Flapan; Leon Roisch (Kustos des Museums von Dimona); Dolf Michaelis (Bankier); Mascha Kaleko; Eva Robinson; [Herr] Stephen (Oberbürgermeister der Stadt Andernach); Baruch Narshon (Siedler in Hebron, Bildender Künstler); Mitglieder der Bewegung “Schwarze Panther” und mehr …
Produktion: Stephan Films – Parafrance, Vera Belmont, Compagnie d’Entreprise et de Gestion, Laboratoire Vitfer, M. Biderman
»Was ist das: Normalität?«
Claude Lanzmann im Gespräch über WARUM ISRAEL (2007)
Die Ursprünge von WARUM ISRAEL liegen im Dunkeln – es gibt keine geradlinige Kausalität in einem solchen Fall. Als der Staat Israel 1948 gegründet wurde, ist das in gewisser Weise gänzlich an mir vorbeigegangen. In jenem Jahr befand ich mich nämlich in Deutschland, als Universitätsdozent in Tübingen und in Berlin während der Blockade und der Luftbrücke. Die Stadt war bereits geteilt, und komischerweise kümmerte ich mich um die Deutschen. Die deutschen Studenten, die männlichen, waren alle älter als ich, weil sie aus den Gefangenenlagern kamen. Die Frauen hatten das übliche Alter. Ich nahm mit ihnen Das Sein und das Nichts von Sartre durch und Rot und Schwarz von Stendhal. Eines Tages kamen sie zu mir und fragten mich, ob ich nicht ein Seminar über Antisemitismus halten könnte. Ich habe darüber nachgedacht und mich dann darauf eingelassen, ihnen aber gesagt, dass ich nicht wüsste, wie ich es anstellen sollte. Wir mussten also gemeinsam erfinderisch werden, sie und ich.
Für mich persönlich war das sehr schwierig. Ich habe den Krieg erlebt, ich hatte nur kurzzeitig einen Ausweis mit Judenstempel. Ich bin in der Résistance gewesen, im Widerstand. Ich habe den Vorkriegs-Antisemitismus erlebt, einen gewalttätigen Antisemitismus. Ich habe schreckliche Dinge erlebt, die man sich heute kaum mehr vorstellen kann. Und dann der Krieg, die Résistance. Ich habe gegen die Deutschen gekämpft und wirklich welche getötet. Mein Vater war einer der Anführer der Résistance in der Auvergne, mein Bruder war auch dabei. Wir haben gekämpft, uns versteckt, wieder gekämpft, und das fast fünf Jahre lang. Und dann, nach dem Krieg, kam das berühmte Buch von Jean-Paul Sartre Überlegungen zur Judenfrage, 1946 erschienen. Es war ein sehr wichtiges Buch für mich, entscheidend, befreiend.
Man hielt Sartre damals – und man kann es heute noch vertreten – für einen der größten Schriftsteller Frankreichs. Ein Voltaire und vieles mehr. Das Buch zeichnet in der Tat ein hervorragendes Portrait des Antisemiten und enthält wichtige Überlegungen über die jüdische Authentizität. Was sind unauthentische Verhaltensweisen des Juden, sprich Verhaltensweisen der Angst oder der Scham? Wir alle haben das erfahren, ich selbst habe es erfahren. Der Jude fühlt sich bedroht. Das ist sehr komplex. Ich versuche gerade selbst, ein Buch über all das zu schreiben, daher meine Zurückhaltung, darüber zu sprechen. Ich hatte also während des Krieges mehr Zeit in der Résistance verbracht als in der Schule und kam erst im Januar 1945 zurück nach Paris – ich hatte meine Mutter seit 1938 nicht gesehen …
Und komischerweise fing ich an, Philosophie zu studieren. Und trotz all dem, was passiert war: Deutschland war für uns Studenten das Land der Dichter und Denker geblieben, der großen Philosophen: Kant, Fichte, Hegel, Schopenhauer. 1947 fuhr ich also nach Deutschland, um mein Studium dort mit einer Arbeit über Leibniz abzuschließen; ich hätte das auch in Paris gekonnt, hatte aber Gründe, nach Deutschland zu gehen. Ich verbrachte ein Jahr an der Universität in Tübingen mit Michel Tournier. Für die Anekdotensammlung fällt nebenbei ab, dass wir oft zusammen
ausritten …
Dann begann der Kalte Krieg, nicht plötzlich natürlich, sondern so nach und nach, und man schlug mir die Dozentur an der FU Berlin vor, wo ich kurz nach der Blockade eintraf. Ich blieb ein Jahr in Berlin und bin dann heimlich nach Ostdeutschland rüber. Ich fuhr heimlich in die DDR, weil die Russen mir kein Visum geben wollten. Ich habe nachts auf Plätzen, in Parks geschlafen. Ich habe wirklich viel riskiert. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn die mich erwischt hätten. Ich hatte einige Adressen, ein Netzwerk von protestantischen Pfarrern, die zu zittern anfingen, wenn ich kam. Zurück in Frankreich habe ich eine Serie von 10 Artikeln geschrieben, die ich an Le Monde sandte, ohne irgendjemanden zu kennen. Drei Tage später haben sie mir geantwortet, dass sie meine Reportage unter dem Titel Deutschland hinter dem Eisernen Vorhang publizieren wollten. Das gefiel mir gut, und also bin ich nach Israel gefahren mit dem Gedanken, dies zu wiederholen.
Die Wahrheit ist, dass ich ohne jüdische Kultur aufgewachsen bin, ohne jüdische Tradition, ohne jüdische Religion. Meine Familie stammt aus Osteuropa. Mein Vater ist am 14. Juli 1900 in Paris geboren, mein Großvater väterlicherseits wurde 1913 mit 39 Jahren »eingebürgert« – wie man so schön sagt. Am ersten Tag des Ersten Weltkriegs trafen Steine die Schaufenster seines Antiquitätenladens im XVIII. Arrondissement von Paris, weil der Name irgendwie Deutsch klang. Am selben Tag wurde er eingezogen, weil er gerade eingebürgert worden war. Er war 40 Jahre alt und wurde gemeinsam mit 20-jährigen eingezogen. So kämpfte er den gesamten Krieg in erster Frontlinie als Grenadier. Er wurde dreimal verwundet, erhielt diverse Kriegsauszeichnungen etc. Mein Vater meldete sich seinerseits mit 17 freiwillig und erlitt eine Senfgasvergiftung an der Somme. Man kann also sagen: Ich bin ein gebürtiger Franzose, ein Stammesfranzose, ein Franzose durch und durch.
Wie eben schon gesagt: Als ich nach Deutschland kam, stand ich dem Zionismus gleichgültig gegenüber, ich wusste von nichts, und als am 14. Mai 1948 die Gründung des Staates Israel ausgerufen wurde, kümmerte ich mich um meine deutschen Studenten. Ich hatte überhaupt nicht vor, einen Film über Israel zu machen. Ich bin nach Israel gefahren, im Gepäck die Vergangenheit, die ich gerade skizziert habe, und das Buch von Jean-Paul Sartre. Was sind diese Juden, die keine Juden sind? Ich wusste nicht, dass ich kein Jude war. In Israel habe ich die jüdische Besonderheit entdeckt, habe ich entdeckt, dass es ein echtes jüdisches Volk gibt, eine Kultur, eine gemeinsame Tradition dieser Menschen aus allen Teilen der Welt. Meine Großeltern waren von dort. So hatte ich plötzlich das Gefühl, als sei ich nur zufällig Franzose geworden und als hätte es mich genauso gut dort oder woandershin verschlagen können. All das gab mir viele Rätsel auf. Der Idealismus der Israelis hat mich sehr bewegt, ihre Selbstverleugnung und Opferbereitschaft. Als ich dort war, starb man vor Hunger; das Land bestand erst seit vier Jahren, es waren die mageren Jahre. Ich habe die ganze Zeit Hunger gelitten, mehr als während der Besatzung in Frankreich.
Ich lernte bei der Überfahrt Leute kennen, die mich zu sich einluden. Ich nahm die Einladung an und blieb drei Monate bei diesen armen Leuten ohne Geld, aber von bemerkenswerter Großzügigkeit. All das bewegte mich sehr, verstrickte mich, und mir wurde klar, dass ich die Reportage nicht würde schreiben können, weil das zu persönliche und zu intime Bereiche berührte. In gewisser Weise ging das die potentiellen Leser meiner Reportage nichts an, und als ich nach Frankreich zurückkam, sprach ich darüber mit Sartre und Simone de Beauvoir, die ich seit kurzem kannte. Sartre sagte zu mir, dass er mich gut verstehen könne und fügte hinzu: »Dann schreiben Sie ein Buch!« Ich hielt das für eine sehr gute Idee, schrieb an die hundert Seiten, die gut waren, und hörte dann auf. Ich war beim Schreiben des Buches auf dieselben Probleme gestoßen und hatte wohl nicht die innere Kraft, die Dinge zu sagen, mich in gewisser Weise selbst zu erforschen – so gab ich es auf. Es gab also eine nicht realisierte Reportage und ein gescheitertes Buchvorhaben. Zwanzig Jahre später wurde daraus ein Film. Die Frage ist also nicht, wie ich von der Schrift zum Kino gekommen bin, sondern warum es das Kino war, das es mir mit zwanzigjähriger Verspätung ermöglicht hat, all das zu sagen, was ich während dieser ersten großen Reise empfunden hatte. Ich hatte Zeit gehabt zu reifen und wusste nun, was ich machen wollte.
Einige Szenen in WARUM ISRAEL sind ganz und gar inszeniert. Dieser Film hat einen roten Faden, nämlich: Was ist das: Normalität? Was ist das: Ein Land, in dem jeder Jude ist? Das ist das Entscheidende vom Standpunkt eines Juden aus der Diaspora – und das waren sie ja letztlich alle. Der ganze Film spielt damit, mit der Normalität und der A-Normalität. Ich zeige in WARUM ISRAEL, dass die Normalität das eigentlich Anormale ist, und dabei ist WARUM ISRAEL ebenso sehr ein Film über mich wie über Israel. Wenn ich etwa die Polizistin frage, wie es sich anfühlt, Juden zu verhaften, dann versteht sie meineFrage erst gar nicht. Sie sagt, sie wisse nicht, was ich meine, verstehe mich nicht. Darauf ich: »Ist das nicht erstaunlich für Sie?« Sie verneint und sagt, sie habe noch nie einen Araber verhaftet, immer nur Juden. Ebenso der Polizeihauptkommissar, der in Auschwitz gewesen ist und der sagt, dass man in einem jüdischen Staat mit einer jüdischen Armee keine nicht-jüdischen Polizisten einsetzen könne. Genau darum dreht sich der ganze Film. Nehmen wir das Gefängnis: Dort findet zum Beispiel eine Szene statt, die ich spielen lasse und in der diese Sache mit der Normalität/Anormalität zum Vorschein kommt. Um das zeigen zu können, muss man inszenieren, spielen lassen.
Bei meiner ersten Israel-Reise kam mir all das schon unerhört, unglaublich vor. Zum Beispiel: Auf dem Schiff, das ich in Marseille bestiegen hatte, teilte ich die Kabine mit einem großgewachsenen Rabbi aus Marrakesch, glaube ich, jedenfalls war er Marokkaner, der kein Wort Französisch sprach, nur Arabisch und Hebräisch. Ich für meinen Teil sprach weder das eine noch das andere. Er war ein hochgeschossener Typ mit schönen blauen Augen, dünn, mit dicken Socken im Hochsommer. Fragte mich auf Hebräisch, ob ich Jude sei, das Wort kannte ich und so bejahte ich, worauf er mir widersprach. In seinen Augen war ich kein Jude, denn ich beachtete nicht die Gebote. Auch kam am ersten Morgen eine Israeli in meine Kabine auf diesem israelischen Schiff, um zu putzen. Und ich habe es nicht ertragen können, sie vor mir auf allen Vieren kriechen zu sehen, um die Kabine zu putzen. Ich habe sie aufgerichtet, sie blickte mich an und hielt mich wohl für verrückt. Sie hatte recht. Und so kam es, dass die Kabine nicht mehr gereinigt wurde …
Um noch einmal auf die gespielten Szenen zurückzukommen, von denen gab es mehrere, aber eine ist besonders interessant, und so werde ich erzählen, wie ich sie gedreht habe: die Szene mit den amerikanischen Juden im Supermarkt. Da sind sie also, kommen ins Schwärmen bei all den jüdischen Produkten … Ihr zweites Auftauchen im Film zeigt übrigens in Wirklichkeit unser erstes Zusammentreffen. Da fragte ich mich, wie sich das darstellen lassen könnte. Dieses Erstaunen vor der Normalität war so unglaublich, diese Blendung: die Anormalität. Ich fragte sie also nach ihrer Reiseroute und erfuhr, dass sie sich am Tag X in Jerusalem einfinden würden. Ich richtete es so ein, dass ich auch da sein konnte; ich habe ihr Hotel aufgesucht und habe sie auch gesehen, bin ihnen sogar gefolgt. Sie waren in einem Bus, den ich anhielt. Ich bin eingestiegen und habe ihnen nach einer kurzen Begrüßung erklärt, dass ich einen Film über Israel drehte, über das, was passiert war. Ich fragte sie, ob es ihr erstes Mal in Israel sei, was ich ja bereits wusste seit unserem letzten Treffen, und erzählte ihnen, wie es mir beim ersten Mal ergangen war. Danach fragte ich sie, ob sie es genauso empfunden hätten. Genau so. Also sagte ich: »Sehr gut, drehen wir sofort, kommen Sie mit!« Ich brachte sie in einen großen Supermarkt in Jerusalem, gab ihnen einige Anweisungen: »Los, seid erstaunt!« Sie verstanden sofort, was ich sagen und tun wollte, sie fühlten und lebten es ja selbst und haben es folglich auch wunderbar gespielt. Diese Szene ist wirklich toll und sehr komisch. Man lacht viel, und sie, die Amerikaner, lachten besonders, als sie sie sahen. Das also, das ist durchweg eine gespielte Szene.
Beim Wiedersehen der beiden russischen Brüder hingegen war das überhaupt nicht der Fall. Jeden Tag kamen Russen an, und nach einigen Tagen oder Wochen hatten sie nur den einen Wunsch: Israel wieder zu verlassen, obwohl andere es, wenn auch mit ernsten Schwierigkeiten, schafften, den schrecklichen Schock des Neuen zu überwinden, sprich das Land zu wechseln, die Sprache, alles … Das war schon immer so, zu allen Zeiten und durch alle Schichten von Immigranten hindurch. Ich hatte mich umfassend vorbereitet. Ich war mehrere Nächte hintereinander auf den Flughafen gegangen, um zu sehen, wie alles vor sich ging, und als ich mich entschied zu drehen, kamen Leute an. Also fing ich an, diesen Mann mit dem schönen Gesicht zu befragen, der seinen Bruder seit 38 Jahren nicht gesehen hatte. Er sagt mir, sein Bruder sei unten, aber man ließe ihn nicht zu ihm durch. Ich also: »Ich gehe ihn holen!« und bin los. Ich habe ihn gefunden und habe die beiden Polizisten, die mich begleiteten, gebeten, ihn hereinzulassen. Was dann passierte, ist sehr schön. Der Bruder, der gerade aus Russland angekommen ist, sieht mich an, sieht die Kamera an, bevor er die Arme ausbreitet, um zu wissen, ob wir bereit sind. So eine unglaubliche Höflichkeit. Als ich bejahe, fallen sich die Brüder in die Arme und weinen. Man kann also höflich sein, ohne dass das Gefühl darunter leidet. Das ist wirklich eine große Lektion. Oder das junge russische Paar, das ich begleite und das nach einem Monat wieder abreisen will. Ich hatte mir bei ihrer Ankunft gesagt, dass ich sie nach einem Monat aufsuchen würde. Dabei hatte ich mir geschworen, nichts zu verfälschen. Ginge es ihnen gut, würde ich es zeigen, ginge es ihnen nicht gut, ebenso, und ich habe es gezeigt. Für einen Ausgleich sorgten die Szenen mit den Juden aus Dimona. […]
Das also sind die Quellen von WARUM ISRAEL, aber der Film zeigt noch viel mehr, die jüdische Solidarität, die Solidarität der Juden aus der ganzen Welt diesem Land gegenüber. Der Sänger, der den Film eröffnet mit seinem Spartakisten-Lied, ist in vielerlei Hinsicht bezeichnend; er steht auch für die Nostalgie nach Europa, die viele verspürten, denn Israel ist ein hartes Land. Nach diesem Film wollten viele aufbrechen in den Hebräischen Staat. In Frankreich und anderswo sang die Kritik regelrechte Loblieder. Juden wie Nicht-Juden waren verrückt nach dem Film. In den Vereinigten Staaten ist der Film aber zum Beispiel nicht wirklich gesehen worden. Er sollte beim Festival von New York am 7. Oktober 1973 laufen. Er lief auch tatsächlich im Lincoln Center, aber es war eben
zugleich der erste Tag des Jom-Kippur-Kriegs, nach der ägyptischen Offensive gegen Israel. Also wollte meine Frau, die ich in Israel kennen gelernt hatte, unverzüglich abreisen. In Paris fand die Premiere am 11. Oktober statt, es folgten einige andere Städte, dann brach ich nach Israel auf. Es war wirklich unerträglich, nichts tun zu können. Nach Kriegsende flog ich erneut in die USA, damit der Film dort gespielt würde. Die Kritiken waren mehr als gut, ich denke da an Variety, den Hollywood Reporter, die New York Times … – kurzum: an alle, die bei der Uraufführung im Lincoln Center dabei gewesen waren.
Ein junges Mädchen hatte mich da übrigens während der Pressekonferenz gefragt: »Aber was ist Ihre Heimat, Herr Lanzmann? Frankreich oder Israel?« Ich erinnere mich geantwortet zu haben: »Mein Film ist meine Heimat.« WARUM ISRAEL fand jedenfalls keinen Verleih in den USA. Er lief in Frankreich, in Deutschland und in wenigen anderen Ländern. Bald darauf nahm mich die Arbeit an SHOAH ganz in Anspruch, und ich habe den Film erst vor einigen Jahren für mich wiederentdeckt und wirklich nicht verstanden, warum er nicht mehr gezeigt wird. Es ist ein toller Film. Die Vorführung im Rahmen von Cannes Classics 2007 und die DVD-Veröffentlichungen haben nun neue Möglichkeiten eröffnet. Und tatsächlich, es ist wirklich ein Werk, das nicht gealtert ist, auch wenn sich die Dinge verändert haben. Man sollte den Film nicht ansehen und dabei das Israel von damals mit dem von heute vergleichen. Und doch sind es dieselben Leute, in ihrem Wesen haben sie sich nicht verändert. […]
Meine Filme haben letztlich alle dieselbe Quelle: die ›Shoah‹, die auch in WARUM ISRAEL präsent ist. Und zwar explizit am Anfang und am Ende des Films: Die Aufzählung der Namen, meines Namens, meines Familiennamens, schreibt sich in die ›Shoah‹ ein. Mir war nicht bewusst, eine so große Familie zu haben; es sind keine Verwandten, aber Leute meines Volks, das ist dasselbe. Das verbindet die Filme der Trilogie SHOAH, POURQUOI ISRAEL, TSAHAL. Diese drei Filme hängen zusammen, sind zutiefst ineinander verwoben. […]
[Postskriptum:] Ich habe noch nicht über die politischen Gründe für diesen Film gesprochen. Ich habe mich sehr viel mit den antikolonialistischen Kämpfen beschäftigt. Ich habe das Manifest der 121 unterschrieben [das französische Soldaten zur Gehorsamsverweigerung im Algerienkrieg aufrief. Anm. d. Ü.], ich bin einer der 10 Angeklagten. Ich leite diese Zeitschrift Temps Modernes, in der ich auch selbst vieles geschrieben habe, das immer wieder der Zensur zum Opfer gefallen ist. Ich habe mich sehr intensiv mit der algerischen Frage beschäftigt und war immer der Ansicht, dass man sehr wohl zugleich Verfechter eines unabhängigen Algeriens und des Staates Israels sein könne. Dann wurde mir klar, dass das nicht stimmte. Ich habe die Algerier kennen gelernt, etwa den jetzigen Präsidenten Herrn Bouteflika; den lernte ich kennen als jungen Kapitän mit blauen Augen, der mir von der Schönheit eines Hinterhalts in der Wüste vorschwärmte und mir zugleich sagte, dass Algerien nach Erreichen der Unabhängigkeit Missionen nach Israel schicken sollte: »Weil wir viel von den Israelis lernen können«, sagte er mir. »In welchen Bereichen?« fragte ich. »Bewässerung, Entwaldung, das Kibbuz-System.« Ich habe Briefe von Ben Bella, der mir aus dem Gefängnis schrieb und mich »Mein Bruder« nannte. Ich war in Rabat, als sie nach Erklärung der Unabhängigkeit an den Truppen der Nationalen Befreiungsarmee vorbeimarschierten, zu denen Ben Bella sagte: »Ihr seid unser Blut.« Und kurz danach befreite er seinerseits 100.000 Männer, um Palästina befreien zu gehen. Es war vorbei. Dann war da der 6-Tage-Krieg, den die Israelis gewannen und nach dem ein Großteil der antikolonialistischen Linken, ein Großteil meiner Kampfgenossen, anfing, auf Israel herumzuhacken mit dieser hundsgemeinen Pauschalisierung: Das sind Sieger, das sind Nazis, mit der daraus folgenden neuen Opferrolle der Araber. Es war unglaublich. Ich habe also diesen Film gemacht, um ihnen zu antworten, ihnen zu sagen, dass Israel kein Volk von Mördern, sondern ein Volk von Flüchtlingen ist, ein Volk von alten Frauen. Es gibt also zwei große Erklärungen für diesen Film: einerseits die Vergangenheit, dieses gescheiterte Buchprojekt und die unvollendete Reportage, andererseits diese genuin politischen Gründe.
Quelle: dvdrama.com (Interview anlässlich der französischen DVD-Premiere)
Übersetzung der Auszüge: Valeska Bertoncini
- Extras
Ausführliches Online Booklet, Interview mit Claude Lanzmann (Deutsch) uva.
43 Min. Podiumsgesprach mit Claude Lanzmann (Franzosisch mit englischen UT). Organisiert vom
›Mémorial de la Shoah‹, Paris. Moderation: Jacques Fredj, Direktor. Mit: Claude Lanzmann, Éric Marty, Serge Toubiana- Inhaltsübersicht
DVD 1
1 »Darum sind wir hergekommen.«
2 »Es gibt keine Normalität.«
3 »Wir sind noch auf dem Weg …«
4 Ankunft der russischen Juden.
5 »Was ist ein Jude?«
6 Unterbringung der russischen Juden:
Traum und Wirklichkeit.
7 »Wer ist Jude?«
8 Staat und Religion.
9 Das tote Meer. Masada.
10 Die Schwarzen Panther.
11 Kibbuzbewegung und Arbeiterklasse;
Sephardim und Aschkenasim.
DVD 2
1 Eine jüdische Polizei.
2 Tel-Mond, Gefängnis für jugendliche Straftäter.
3 »Dieses innere Wissen, dass man in Gefahr ist …«
4 »Die Armee ist kein Spiel.«
5 Die Verantwortung der Armee.
6 Enthusiasmus und Enttäuschung.
7 Dimona: Von der Utopie zur Realität.
8 Keine »Wiedergutmachung«.
9 »Das Gefühl der Enge.«
10 »Groß-Israel«?
11 Hebron.
12 Gaza.
13 Yad Vashem.
Abspann- Credits
-
Buch: Claude Lanzmann
Kamera: William Lubchansky, Colin Mounier
Regie: Claude Lanzmann
Schnitt: Ziva Postec, Francoise Beloux
Ton: Bernard Aubouy
Produktionsland: F
Produktionsjahr: 1973
- Pressestimmen
»Pourquoi Israil, Warum Israel, von Claude Lanzmann ist ein außergewöhnlicher Dokumentarfilm. Nicht nur durch seine Dauer von 195 Minuten. Nicht nur durch die vielfältigen Zugänge zu ganz unterschiedlichen Israelis, in denen bei aller Differenz immer die Erinnerung an jahrtausendelange Diskriminierung und an die Shoah mitklingen, an Momente der Trauer und des Aufbruches hin zu einem eigenen Staat für alle Jüdinnen und Juden. Nicht nur, weil es der erste Film des Regisseurs von Shoah ist. Sondern weil hier ein französischer, radikal linker Intellektueller, der in der lUsistance gegen die Deutschen Besatzer gekämpft hat, der sich mit Jean Paul Sartre und vielen Anderen gegen den Algerienkrieg engagiert hat, Aufklärung versucht darüber, was Israel ist. Und warum es ist, sein muss. … Bei Absolut Medien ist eine schöne und gut besorgte Edition des Filmes auf einer Doppel-DVD erschienen.« Gegenwind
»Dieser Film hat einen roten Faden, nämlich: Was ist das: Normalität? Was ist das: Ein Land, in dem jeder Jude ist? Das ist das Entscheidende vom Standpunkt eines Juden aus der Diaspora – und das waren sie ja letztlich alle. Der ganze Film spielt damit, mit der Normalität und der A-Normalität. Ich zeige in WARUM ISRAEL, dass die Normalität das eigentlich Anormale ist.«
- Claude Lanzmann»Warum Israel taugt heute zum 60. Jubiliäumsjahr noch als eindrucksvoller Kommentar zu einem Land, das sich von Anfang an im Kriegszustand befand, das es ohne massive Verteidigung schon lange nicht mehr geben würde.«
epd Film»liebevoll gemachte DVD-Edition«
literaturkritik.de»Die DVD-Edition ist qualitativ hervorragend erstellt, mit einem sehr informativen Booklet, das ein 12seitiges Interview mit dem Filmemacher enthält«
Jüdische Allgemeine»Lanzmann schildert nicht ohne Witz einige der Differenzen, die das Leben in Israel ausmachen; Versprechungen der Jüdischen Agentur an die Immigranten auf Arbeit und Wohnraum sind schon im Vorfeld nicht zu halten; am zurückgezogenen Leben in den Kibbuzen ist ein deutliches Arm-Reich-Gefälle ablesbar usw.«
- Junge Welt»Dann ging’s los mit dem Film aus dem Jahr 1973, der, wie der “Konkret”-Herausgeber Hermann L. Gremliza in der Diskussion danach ganz richtig anmerkte, eigentlich “Darum Israel” heißen müsste. Zeigt er doch die Gründe für die Existenz des Staates. Und das auf ausgesprochen kurzweilige Art. Das Publikum saß da, als wäre es vollkommen alltäglich, dass sich ein paar hundert Kinobesucher an einem Montagabend mal eben einen dreistündigen Dokumentarfilm anschauen.«
- SPIEGEL ONLINE anlässlich der Vorführung in Hamburg am 19.1.2010»Einzigartige Einblicke in eine sich selbst erfindende Nation.«
- 3sat kulturzeit
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